1. Was meinen wir mit dem Begriff „Osteuropa”?
Es gibt verschiedene politische, geografische und ethnische Perspektiven auf „Osteuropa”. In dieser Seminarreihe werfen wir einen Blick auf die Geschichte dieses Begriffes und auf die Vielfältigkeit der Definitionen von „Osteuropa”. Den historischen Prozess der Bildung des Begriffs „Osteuropa” betrachten wir als Teil des kolonisierten Wissens, welches es zu dekolonisieren gilt.
2. Ist „Osteuropa” nicht ein problematischer Begriff?
Ja, der Begriff selbst hat bereits koloniale Züge. Sprachlich gesehen suggeriert er eine Art Angliederung des „Ostens” an Europa und im Umkehrschluss eine eurozentristische Sicht, aus der „Osteuropa” eine Peripherie Europas ist.
3. Warum „Osteuropa dekolonisieren”, wenn es dort doch gar keine Kolonien gab?
Wir vertreten die These, dass die Kolonialzeit eine strukturelle und ideologische Auswirkung auf die Beziehung zum östlichen Europa hat. Dies gilt es noch weiter zu untersuchen. Darüber hinaus ist das Verb „Dekolonisieren” als Begriff nicht nur in Kontexten wichtig, in denen es konkret Kolonien oder Kolonialismus gab. Das Ziel, die Dominanz des westeuropäischen Wissens und der Kultur zu hinterfragen, ist ein Prozess, der in den 1980er Jahren begann (Stuart Hall, Frantz Fanon) und der für alle nicht-westeuropäischen Kontexte wichtig ist. 2015 entstand die weltweite Bewegung „Decolonise the University”. Diese begann mit studentischen Protesten in Kapstadt, wo gefordert wurde, dass die auf dem Campus stehende Statue von Cecil Rhodes demontiert wird. Die Bewegung vergrößerte sich und die Forderungen beziehen sich nun auch auf die Veränderung und Anpassung des Curriculums, des „Kanons” und anderer Studieninhalte. Wir stellen die gleichen Reformforderungen in Bezug auf „Osteuropa“, welches als Region mit Ausnahme der Slavistik und der Osteuropäischen Geschichte an deutschen Universitäten unterrepräsentiert ist. Hier geht es vor allem um das Aufbrechen von kolonialen Grundlagen, auf denen universitäre Studiengänge aufbauen.
Wenn wir von „Osteuropa dekolonisieren” sprechen, dann meinen wir einen Themenkomplex, der sich aus folgenden Teilaspekten zusammensetzt:
a. Das Wissen und die Kultur aus dem östlichen Europa wurde über die letzten Jahrhunderte im westlichen Europa auf eine bestimmte und oft problematische Weise angeeignet und rezipiert. Die Wahrnehmung „Osteuropas” im „Westen“ konnte so koloniale Züge annehmen.
b. „Osteuropa” wurde in der Geschichte und wird in der Gegenwart immer noch als „rückständig” wahrgenommen. Dies führte zur ökonomischen Ausbeutung, die bis heute andauert und sich noch weiter intensiviert. Osteuropäer*innen, die im westlichen Europa arbeiten, bekommen einen viel niedrigeren Lohn als ihre westeuropäischen Kolleg*innen. Westeuropäische Firmen verlegen ihre Produktionsstätten im östlichen Europa an, um ihre Produktionskosten niedrig zu halten und höhere Profite zu erzeugen. „Osteuropa“ wurde deshalb auch als „verlängerte Werkbank“ des westlichen Europas charakterisiert.
c. Kultur, Kunst, Musik und Wissen aus dem östlichen Europa wird im westlichen Europa nicht ernst genommen. Es gibt kaum Institute, die sich diesen Bereichen widmen. Beispielsweise wird die Kunstgeschichte „Osteuropas” als ein kleiner Teil der Slavistik behandelt. Die Kunstgeschichte des östlichen Europas ist nicht Teil des kunsthistorischen Curriculums. Dabei hat, wie im Punkt b angedeutet, das westliche Europa in den letzten Jahrhunderten sehr stark von der „Rückständigkeit Osteuropas” profitiert und tut es immer noch. Es fehlt also sowohl an Anerkennung als auch an Gleichbehandlung – zwei Aspekte, die in einem starken Maße zusammenhängen.
d. Über die schwierige Beziehung zwischen West und Ost hinaus, wollen wir uns auch dem „kolonialen Gefälle“ innerhalb des östlichen Europas widmen. Gemeint sind beispielsweise die ungleichen Verhältnisse zwischen den Sowjetrepubliken und der Russischen Sowjetrepublik. Darüber hinaus gab es in der Geschichte des Russischen Reiches und der Sowjetunion die sogenannte Binnenkolonisierung bzw. innere Kolonisation (z. B. von Sibirien). Madina Tlostanova bezeichnet das Verhältnis Russlands zum Kolonialismus als Janusköpfichkeit, die sich einerseits über ein “kolonisiert Werden” durch den Westen und andererseits durch eine Kolonisation der expansionistisch erworbenen Gebiete (Polen-Litauen, Zentralasien u. a.) äußert. Auch in der preußisch-deutschen Geschichte ist diese Ambivalenz zu postulieren. Historischer Ausdruck dessen ist der Kulturkampf gegen die kulturellen und ethnischen Minderheiten (Elsässer, Katholiken, Polen u. a.).
e. Es gibt koloniales, rassistisches und antisemitisches Denken im östlichen Europa.
f. Wir beschäftigen uns auch mit dem anti-slawischen Rassismus, der tiefe historische Wurzeln hat und in dem nationalsozialistischen Vernichtungskrieg einen grausamen Ausdruck fand.
4. Identifizieren wir uns mit den Osteuropäer*innen?
Wenn wir uns mit dem Anti-Slawismus beschäftigen, dann sympathisieren wir mit Menschen im östlichen Europa und mit Menschen osteuropäischer Herkunft, die unterdrückt und/oder schlecht behandelt wurden bzw. werden. Wir versuchen Wissenslücken auf diesem Gebiet zu verkleinern.
5. Kann man „Osteuropa” dekolonisieren ohne es zu idealisieren?
Wir wollen „Osteuropa” nicht idealisieren, vielmehr einen kritischen Zugang zu den von uns gewählten Themen finden.
6. Wie reflektieren wir unseren eigenen (nicht-osteuropäischen) Standpunkt?
Weil wir nicht in im östlichen Europa sind und von Deutschland aus auf „Osteuropa” blicken, ist dieser Blick notwendigerweise verzerrt. Diese Verzerrung können wir nicht beheben. Wir können und müssen sie aber darlegen und reflektieren.
7. Verwenden wir „Osteuropa” um das westliche Europa zu kritisieren?
Ja. Im Grunde verwenden wir „Osteuropa”, um das westliche Europa zu kritisieren, nämlich dafür, dass es aus unserer Sicht das östliche Europa kolonisiert hat und dass seine Kultur und Gesellschaft auf Kosten des östlichen Europas aufgebaut ist. Unser Ziel ist ein reflektiertes, verändertes Denken über „Osteuropa” und ein Ende der Ausbeutung dieser und anderer Regionen.
8. Ist „Osteuropa” eine Utopie? Ist diese ganze Geschichte mit „Osteuropa Dekolonisieren” nicht nur ein Märchen?
Jein. Im Märchen verlassen die Held*innen ihren Ort, um an einem anderen Ort ihre Erfüllung zu finden, bzw. müssen sie an diesen anderen Ort, um zurückgekehrt an ihrem Ort die Erfüllung zu finden. Dieser andere Ort wird zu einer wichtigen Voraussetzung der Veränderung des Ausgangsortes. Jedoch handelt es sich um einen abstrakten, fernen und (mit Vladimir Propp) im realen Leben eigentlich nicht existierenden Ort. Der Ort ist eine Utopie. „Osteuropa“ wird oft als dieser ferne Ort der Utopie aufgeladen (Alexander Kluge). Wir können es kaum vermeiden, in die gleiche Falle zu tappen. Was wir jedoch machen können ist die Notwendigkeit dieses Märchens zu umschreiben.
9. Ist „Osteuropa” eine Dystopie?
Ja, auch. Das östliche Europa entwickelte sich in der Frühen Neuzeit zu einer immaginierten Grenze, zu einem zivilisatorischen Gegenentwurf und zu einem betrachteten Andersartigen (Larry Wolff). Diese Abwertung fand im rassistisch motivierten Vernichtungskrieg gegen Polen, die Sowjetunion und andere osteuropäische Staaten ihren Ausdruck. Festgehalten im Generalplan Ost hatte sie im faschistischen Deutschland ihren Höhepunkt, wurde aber im Kalten Krieg durch den Antikommunismus tradiert (und so war es auch nur bedingt ein Problem, wenn ein amerikanischer Präsident über den Abwurf von Atombomben über die Sowjetunion witzelte). Auch im 21. Jahrhundert bleibt die Frage, inwieweit die Abwertung des östlichen Europas eine Rolle spielt, von hoher Aktualität, etwa im alltäglichen Antislawismus oder in der Wahrnehmung von Nicht-EU Ländern des östlichen Europas und ihrer Präsenz innerhalb der deutschen Erinnerungskultur (z. B. deutsche Kriegsverbrechen in Belarus und der Ukraine u. a.).
10. Wollen wir unserer selbst vergewissern?
Jein, wir wollen eher, dass das westliche Europa sich selbst anders versteht, indem es das östliche Europa anders versteht. Dies soll nicht durch Gegensätze erfolgen, sondern durch Identifikation. Das westliche Europa soll sich nicht mehr als eine Erfolgsgeschichte verstehen, sondern verstehen, dass es ohne die Marginalisierung und Benachteiligung des östlichen Europas und anderer Regionen unserer Welt so nicht bestehen würde.
11. Betreiben wir Identitätspolitik?
Nein. Wir interessieren uns für Kunst, Kultur und den wissenschaftlichen Diskurs. Wir sind keine politische Gruppe oder Vereinigung, aber wir sympathisieren mit linken Gruppen und progressiven politischen Strömungen.